Reinecke, Carl: Die Nachtigall

20214
In den Korb
  • Beschreibung
  • Mehr

für Flöte und Orchester, bearbeitet von Henrik Wiese 

Die Musik zu Andersens Märchen von Schweinehirten für Klavier zu vier Händen op. 286, aus dem die vorliegende Nachtigallenmusik entnommen ist, entstand vermutlich Ende 1909 bis Januar 1910, erschien kurz nach seinem Tod und wird in den damaligen Druckblättern als sein "letztes Werk" bezeichnet.

   

Die Musik zu Andersens Märchen von Schweinehirten für Klavier zu vier Händen op. 286, aus dem die vorliegende Nachtigallenmusik entnommen ist, entstand vermutlich Ende 1909 bis Januar 1910. Im Dezember 1909 hatte Carl Reinecke (1824–1910) vom Verlag Breitkopf und Härtel "ein Buch Notenpapier Querformat mit 5 Noten Claviersystem[en], wenn dies aber nicht vorhanden ist, Hochformat mit 6 Claviersystemen" erbeten, das ganz offensichtlich für vierhändige Klaviermusik vorgesehen war. Am 26. Januar 1910 bot Margarethe Reinecke im Auftrage ihres Mannes das Manuskript Breitkopf und Härtel zum Verlag an. "Es ist ein Seitenstück [= 'Pendant'] zu seiner Musik zu Nußknacker und Mausekönig [op. 46] und zwar die Musik zu Andersen's Märchen vom Schweinhirten, deren Widmung die Königin von England huldvollst angenommen hat: Es handelt sich um eine Serie von Musikstücken, die allerdings die Handlung des Märchens illustrieren, aber nichts destoweniger vollkommen selbständig sind. Da es sich seiner Zeit als wünschenswerth erwies zu Nußknacker und Mausekönig einen verbindenden Text herauszugeben, so ist dem Märchen vom Schweinehirten ein solcher sofort beigefügt worden." Reinecke war an einer möglichst raschen Veröffentlichung gelegen: "Was die Drucklegung anbetrifft, so wäre mein Mann, schon um der Dedication willen, sehr dankbar, wenn Sie die Sache so bald als irgend möglich in Angriff nehmen lassen würden." Möglicherweise ahnte Reinecke auch seinen baldigen Tod und wollte das Werk noch zu Lebzeiten veröffentlicht wissen. Zum Korrekturlesen der Druckfahnen war der Komponist nicht mehr in der Lage. Diese Arbeit wurde seinem getreuen einstigen Schüler Fritz von Bose (1865–1945), mittlerweile Klavierdozent am Leipziger Konservatorium, anvertraut. Am 10. März 1910 verstarb Carl Reinecke. Die Musik zu Andersens Märchen vom Schweinehirten op. 286 erschien kurz nach seinem Tod und wird in den damaligen Druckblättern als sein "letztes Werk" bezeichnet.

Während seines Kopenhagen-Aufenthaltes 1847 kam Carl Reinecke in Kontakt mit dem Dichter Hans Christian Andersen (1805–1875), der die allsonntäglichen musikalischen Matinéen in Reineckes Privaträumen wiederholt besuchte. Jahrzehnte später vertonte Reinecke Andersens Märchen Die wilden Schwäne ("De vilde svaner") als op. 164 (1881) in einer dramatisierten Fassung für Soli, Chor und Klavier mit verbindenden Texten. Das Kunstmärchen Der Schweinehirt ("Svinedrengen"), das bei Reinecke übrigens im Gegensatz zur Andersens Originalfassung versöhnlich endet, kritisiert neben Hochmut und Eigennutz die Geringschätzung des Natürlichen gegenüber dem von Menschenhand geschaffenen Künstlichen. Ähnlich wie in Andersens Märchen Des Kaisers Nachtigall ("Nattergalen") ist es die lebende Nachtigall, die die Schönheit der Natur repräsentiert. In Reineckes gereimten Text schließt die Nachtigallenmusik an folgende Worte an:

 

            Auch hegt er eine Nachtigall,

            Die sang mit ihrem süßen Schall

            Wohl tausend holde Weisen,

            Die schöne Welt zu preisen.

Später wird der Vogel noch einmal erwähnt:

 

            Nun zeigte sich die Nachtigall in ihrem grau'n Gefieder,

            Die sang, daß es zum Herzen drang, die allerschönsten Lieder.

 

Als Kuriosum sei am Rande erwähnt, dass die Nachtigall in Dänemark, der Heimat Hans Christian Andersens, gar nicht beheimatet ist. Erst durch den Klimawandel erobert sie sich allmählich die nördlichen Breiten.

 

Mit der Musik zu Andersens Märchen vom Schweinehirten op. 286 wendet sich Reinecke an ein junges bildungsbürgerliches Publikum. Nicht zu übersehen und zu überhören ist der Fingerzeig auf die Szene am Bach aus Beethovens Pastoral-Sinfonie op. 68, wo am Ende Nachtigall (Flöte), Wachtel (Oboe) und Kuckuck (Klarinette) im Terzett singen. Dieselben Motive von Wachtel (punktierte Tonrepetition) und Kuckuck (absteigende Terz) benutzt Reinecke auch in T. 4/5 der vorliegenden Nachtigallenmusik, ohne dass jedoch der verbindende Text auf diese Vögel Bezug nimmt. Reinecke konnte diese Kenntnis wohl damals bei seinem jungen Publikum voraussetzen. Es lag nahe, für die vorliegende Orchestrierung Beethovens Instrumentation mit Flöte, Oboe und Klarinette zu übernehmen. Die Vogelstimmen von Oboe und Klarinette können aber nach Belieben auch anderen Instrumenten zugeteilt werden.

Die übrige Begleitung ist schon in der Originalfassung für Klavier zu vier Händen als sehr dunkler Klang angelegt. Sie ist nahezu vollständig dem Secondo-Part zugeordnet und bildet den nächtlichen Hintergrund für den wehmütigen, lieblichen Nachtigallengesang.

 

In Ermangelung eines Autographs diente die Erstausgabe von Breitkopf & Härtel als editorische Grundlage der vorliegenden Ausgabe (Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Signatur: 106889). Es handelt sich um Nr. 3 Die Nachtigall aus Heft II, S. 6–9. Die Veröffentlichung des Märchens in drei Heften bestätigt den Hinweis Margarethe Reineckes, dass die Sätze auch aus dem Kontext genommen und einzeln gespielt werden können, denn, auf mehrere Hefte zerteilt, liegt das Werk dem Spieler nicht notwendigerweise vollständig vor.

Bemerkenswert ist die auftaktige Notation der ersten drei Vorschlagsnoten. Durch den ansonsten leeren Auftakt wollte Reinecke wohl sicherstellen, dass diese Noten nicht auf den Schlag gespielt werden. Die Gruppen von Vorschlagsnoten in T. 13 und 17 stehen hingegen nach dem Taktstrich. Es lässt sich bislang nicht klären, ob es sich hierbei um Stichfehler handelt – Reinecke hat keine Druckfahne mehr davon gesehen – oder ob er bewusst durch unterschiedliche Notation differenzieren wollte. In anderem Zusammenhang legt Reinecke darauf wert, dass Verzierungen auf den Schlag zu spielen sind: "Es ist eine Regel, dass die Zeit, welche eine Verzierung in Anspruch nimmt, nur derjenigen Note entzogen werden darf, der die Verzierung angehört". Die Platzierung der Vorschlagnoten muss unter diesen Umständen ganz dem Ermessen des Interpreten anheimgestellt bleiben.

 

Die vorliegende Bearbeitung der Nachtigall eignet sich auch als Zugabe nach Reineckes Flötenkonzert op. 283 oder der Ballade op. 288.

 

Henrik Wiese

München, im November 2023

     
Verwandte Produkte